Der Mensch, biologisch gesehen, unterscheidet sich nicht von der ihn umgebenden Natur. Er ist ein Teil dieser, abhängig von dieser, diese aber auch rückwirkend beeinflussend und verändernd.
Ein zunehmender Anteil der Bevölkerung in unserem Umfeld lebt in städtischen Siedlungen, in örtlich und mental distanziertem Verhältnis zur Natur. Diese sei hier verstanden als Raum physikalischer und biologischer Abläufe ohne entfremdender Überformung durch den Menschen. Ob eine Landschaft mit Windturbinen oder Fotovoltaik als „Natur“ gelten kann, wäre fallweise zu klären.
Die Natur, Stichwort „Schwerkraft“, wird auch in geschlossenen Räumen erfahren. Bilder aus der Natur lassen sich elektronisch konstruieren und vermitteln. Die Körperfunktionen als Teil der Natur verlaufen für eine gesunde Person unbewusst, ohne um die noch unerforschten Wirkungsweisen zu wissen. Milch und Käse nähren auch den, der keine Kuh kennt. Eine wissentliche Verbindung der Person zur Natur wäre entbehrlich, wenn notwendige Anpassungen Fachleuten überlassen bleiben könnten. Einem solchen Zustand widerspricht aber vieler Menschen Sehnsucht nach eigenem Erleben und auch Verstehen der Natur.
Die Natur als Lehrmeisterin
Lernen von der Natur dürfte Wurzeln zurück in die Zeit der Entwicklung des Menschen haben. Einrichtungen der Mechanik zum Heben von Lasten und zur Bewässerung wurden schon in frühester historisch dokumentierter Zeit der alten Kulturen genutzt. Vor gut zehntausend Jahren wurden Sammler und Jäger zu Landwirten, die soziale Organisation dem Ackerbau angepasst. Doch im heutigen Sinn wissenschaftlich zielorientiertes Lernen an der Natur setzte sich in Europa erst im 17. Jahrhundert durch und begründete die Neuzeit.
Philosophen dieser Epoche bis in die Gegenwart fassten das Beobachten und Lernen an Lösungen der Natur als eine Erweiterung des Bewusstseins auf, die sinnenhaft jedem Menschen offenstünde. Unterstellt ist eine naturgegebene Affinität (Bezüglichkeit) aller Menschen zu allen Erscheinungen der Natur, auch die eigene Person umfassend. Ein logischer Zusammengang zwischen individuellem Naturerleben und sozialer Freiheit des Einzelnen wurde abgeleitet. Formen in der Natur wurden als kongruent mit dem Empfinden von Ästhetik und Eleganz gesehen, beispielsweise dem menschlichen Körper oder der Form von Fischen.
Beispielhafte Philosophen
Der englische Physiker und Mathematiker Isaac Newton (1643-1727) hat sich in seiner systematischen Naturforschung auf den englischen Philosophen und Arzt John Locke (1632-1704) berufen. Locke begründete mit der Gleichstellung aller Menschen im Erleben der Natur seine Forderung von Toleranz.
Jean Jacques Rousseau (1712-1778), schweizerischer Philosoph und Verfasser, rief auf zu einer Lebenshaltung im Pakt mit den Prinzipien der physischen Natur. Diese sollte als Grundlage der Menschheit und deren Möglichkeiten gesehen werden. Aus dieser schon von Locke im Naturerleben gewonnenen Einsicht waren für Rousseau alle Menschen zur Freiheit geboren. Er vertrat demokratische Prinzipien, hat gedanklich den Weg zur Französischen Revolution vorbereitet. Analog den Abläufen in der Natur sollte die Gemeinschaft individuelle Entfaltung fördern.
Die italienische Pädagogin Maria Montessori (1870-1952) hat die Lernerfahrung durch Tun in der Natur systematisch gefördert. Ihr Anliegen war es, Kindern und Jugendlichen Rahmenbedingungen zu geben, innerhalb derer sie sich selbst, ungebunden von aufgezwungenen Verhaltensnormen, entfalten könnten. Verstehen von und Achtung vor naturgegebenen Abhängigkeiten, die Voraussetzungen für Nachhaltigkeit, sollten durch jene Art des Lernens angeregt werden.
Nähe zur Natur
Die herangezogenen Beispiele philosophischer Ansätze aus fast 400 Jahren entsprechen den heutigen Notwendigkeiten von Klima- und Umweltschutz. Dichte und Mobilität der gegenwärtigen Bevölkerung in Mitteleuropa belasten die Natur an anziehenden Orten wie Uffing, die oberbayerischen Berge, Seen, Flora, Fauna, auch der Gewässer und des Bodens. Einschränkungen in Zugänglichkeit und Nutzung könnten um der Naturerhaltung willen geboten sein. Erziehung zu Partnerschaft mit der Natur ließen ihrer Schädigung vorbeugen.
Wer in Uffing oder an vergleichbaren Orten lebt, kann sich den sinnenhaft erfahrenen Jahreszeiten, deren Auswirkungen auf Lebensprozesse sowie auf das eigene Empfinden kaum entziehen. Es liegt aber an der Bereitschaft einer Person, ob Zustände in der Natur passiv erfahren oder gar als störend abgewehrt, erduldet, oder aktiv bewusst fragend, suchend und lauschend aufgenommen werden.
Im letzteren Fall lässt der Mensch sich ein auf einen Dialog mit der Natur. Das Lernen an ihr, das Erleben von Zusammenhängen, sind rational intellektuell fassbar. Aber es hat darüber hinaus eine tiefere Dimension. Spirituelles Erleben reicht in die Sphäre des Religiösen hinein.
Nicht zufällig werden bestimmte Bäume, Berge, Quellen als Orte der Andacht, Besinnung, bis hin zu „Wundern“ erfahren. Subjektives Empfinden oder Erahnen und intellektuelles Begreifen können sich ergänzend zu Weisheit und Achtung vor Erscheinungen der Natur (des Lebens) verdichten.
Möglichkeiten der Kommunikation
Sinnesorgane sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken. Damit lassen sich Erscheinungen der Natur feststellen. Individuelle Ausprägung der Sinne ergeben etwas verschiedene Eindrücke physikalisch identischer Zustände. Gemeinsame Vorstellungen der Eindrücke und sprachlicher Ausdrücke ermöglichen es, sich über Beobachtetes zu verständigen. Naturerleben kann mitgeteilt und im Austausch bekräftigt und verstärkt werden.
Elementar ist das Empfinden von Wind durch Druck auf die Haut, meist verbunden mit Abkühlung. Nässe am Körper in unserem Klima kühlt, Sonnenstrahlung von einiger Intensität wärmt. Damit ist schon gesagt, dass Natur nicht allein als Zustände zu einem Zeitpunkt erlebt wird, sondern als deren Abfolge und damit einer Veränderung im Laufe der Zeit. Die Entwicklung von Vegetation oder Vogelbrut lässt sich ihrer Schnelligkeit wegen, relativ zur menschlichen Lebenserwartung, gut beobachten. Blitze oder Bodenerosion verlaufen so schnell oder langsam, dass sie erst durch Vergleichen von Wirkungen oder Stadien der Entwicklung an verschiedenen Orten aufgefasst werden.
Kinder wie Erwachsene fragen nach den Ursachen der Erscheinungen, vermutlich weil Verstehen das Naturerleben bewusster und nachvollziehbar macht. Warum Rinder beim Aus- und Eintrieb den federnden Naturboden dem Asphalt vorziehen, erklärt sich aus der eigenen Erfahrung. Wirkungsweise und Bedeutung der grünen Pflanzen im Detail zu erklären, bedarf vermittelnder Sachverständiger. Schon Kinder, welche Insekten über Wasser huschen sehen, entwickeln eine Vorstellung von Oberflächenspannung, die erklärt, warum Tropfen kugelförmig sind.
Naturerleben vollzieht sich in Abständen, auf Flächen und räumlich. Die Entfernung bis zu einem bestimmten Ziel lässt sich abschätzen aus der erfahrungsmäßig relativen Höhe üblicher Bäume. Erfahrungstatsache und geometrisch erklärt ist, dass die Höhe des Kohlgruber Hörnle scheinbar wächst, wenn der Abstand von Uffing unterwegs nach Obernach oder Unkundenwald geringer wird. Kinder erlernen auf diese Weise die Bedeutung von Proportionalität und Verhältnisgrößen. Im baumlosen Hochgebirge mit sehr klarer Luft werden Entfernungen vom Fremden leicht unterschätzt.
Reinhard Mook
(veröffentlicht in Hoagart 09 | Oktober 2023, siehe unten, Seite 54)
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