Es ist der 9. November 1923 mittags kurz vor 13:00 Uhr. In der Münchner Innenstadt nahe der Feldherrnhalle bricht der Hitlerputsch zusammen.
Bei der Schießerei zwischen rechten, paramilitärischen Verbänden und der Polizei sterben 21 Menschen, etliche werden verwundet. Auch von Hitler, der gemeinsam mit General Ludendorff die Putschisten anführte, heißt es zunächst, er sei tot. Doch Hitler überlebt und kann fliehen.
Zwei Tage lang bleibt Hitler verschwunden. Dann wird er im oberbayerischen Uffing aufgespürt und verhaftet.
Was verschlug Hitler ausgerechnet nach Uffing? Wo fand er Unterschlupf und was geschah in den 48 Stunden seiner Flucht?
Der 9. November 1923 ist ein regnerischer, grauer Tag in München. Ein Freitag. Am Vorabend hat Adolf Hitler gemeinsam mit General Ludendorff, Hermann Göring und weiteren Gesinnungsgenossen eine Versammlung des Reichskommissars von Kahr im überfüllten Bürgerbräu-Keller am Gasteig gestürmt, einen Schuss in die Decke abgegeben und die „Nationale Revolution“ ausgerufen. Der Auftakt für einen „Marsch auf Berlin“, wie es in Italien ein Jahr zuvor die Faschisten unter Mussolini mit ihrem „Marsch auf Rom“ vorgemacht hatten. In Berlin sollte die verhasste Regierung der „Novemberverbrecher“ unter Kanzler Stresemann gestürzt werden. Dafür versuchte Hitler, die Unterstützung des Reichskommissars zu erzwingen, den er mit vorgehaltener Waffe in ein Nebenzimmer des Bürgerbräu-Festsaales drängte. Gustav Ritter von Kahr sind die in Bayern stationierten Einheiten der Reichswehr unterstellt. Hitler weiß: Wenn er von Kahr auf seiner Seite hat, hat er auch die Reichswehr. Hitler scheint zum Letzten entschlossen.
Gustav von Kahr dazu wenige Tage später:
„lm Nebenraum verkündete Hitler, während er mit seiner Pistole herumfuchtelte, ohne seine Erlaubnis dürfe niemand gehen. Er erklärte die Bildung einer neuen Reichsregierung mit ihm an der Spitze.
‚Jeder hat den Platz einzunehmen, auf den er gestellt wird, tut er das nicht, so hat er keine Daseinsberechtigung. Sie müssen mit mir kämpfen, mit mir siegen oder mit mir sterben. Wenn die Sache schief geht: Vier Schüsse habe ich in der Pistole, drei für meine Mitarbeiter, wenn sie mich verlassen, die letzte Kugel für mich.‘ Dabei machte er mit der Pistole, die er während der ganzen Zeit in der Hand hielt, eine Bewegung gegen seinen Kopf.“
Doch der mit diktatorischen Vollmachten ausgestattete Reichskommissar von Kahr geht nur zum Schein auf Hitlers Nötigung ein. Tatsächlich widerruft er noch in der gleichen Nacht seine erpressten Zusagen und verhängt Maßnahmen zur Niederschlagung des geplanten Staatsstreichs. Die NSDAP sowie die Kampfbünde Oberland und Reichskriegsflagge lässt er verbieten.
Die Aktion der Putschisten läuft ins Leere. Auch die erhoffte Solidarisierung der Versammlungsgäste im Bürgerbräu unterbleibt.
Am Vormittag des 9. November ziehen einige hundert übernächtigte Aufrührer vom Gasteig über die Ludwigsbrücke, wo eine erste Polizeisperre durchbrochen wird, durch das Tal zum Marienplatz. Von dort soll es weiter gehen zum Wehrkreiskommando an der Ludwig-/Ecke Schönfeldstraße, das Ernst Röhm mit Männern des Kampfbundes Reichskriegsflagge besetzt hält. Doch das Gebäude des Kriegsministeriums mit dem Wehrkreiskommando ist inzwischen von Reichswehrkräften umzingelt. Eine Konfrontation mit den Hitlertruppen könnte in ein Blutbad münden. Oder glauben Hitler und Ludendorff, die Soldaten der Reichswehr durch Agitation umdrehen und für ihre Sache mobilisieren zu können?
Als der Zug in die Residenzstraße einbiegt, ist er auf 2000 Menschen angewachsen, darunter viele Passanten und Neugierige. Die meisten Münchner bleiben jedoch passiv, viele Plakate der Putschisten sind heruntergerissen oder bereits wieder mit Verlautbarungen der Regierung überklebt.
An der Spitze des Zuges marschieren, in 12er-Reihen untergehakt, bewaffnete Mitglieder der Kampfverbände, dahinter Fahnenträger, gefolgt von den Putschistenführern Ludendorff, Hitler, Göring und weiteren Anhängern.
Die Polizei hat den Befehl, die Hitlertruppen unter keinen Umständen auf den Odeonsplatz vordringen zu lassen. Dann fällt der erste Schuss, abgegeben von einem bewaffneten Sturmtrupp-Mann ...
Dass Hitler in dem 30-sekündigen Feuergefecht unversehrt blieb, hatte er seinem Leibwächter Ulrich Graf zu verdanken, der sich schützend vor ihn warf. Graf bekam 11 Kugeln ab und fiel schwer verletzt zu Boden. Ebenso wie Max Erwin von Scheubner-Richter, ein Mitinitiator des Putsches, der eingehakt neben Hitler marschierte und, von einem Kopfschuss getroffen, Hitler mit nach unten riss. Dabei wurde Hitlers linke Schulter ausgerenkt. Die Kugel, die Max Erwin von Scheubner-Richter tötete, verfehlte Hitler um 30 Zentimeter. Hermann Göring, der wenige Meter entfernt lief, erhielt einen Hüftschuss. Nur Erich Ludendorff blieb unverletzt.
In dem nun einsetzenden Durcheinander von auf der Straße liegenden Verwundeten und Toten, herumirrenden Putschisten, Schaulustigen und Polizeibeamten war der in Zivil gekleidete Hitler als einer der ersten wieder auf den Beinen und eilte die Residenzstraße zurück Richtung Marienplatz. Vor ihm sein Leibarzt Dr. Walter Schultze, der sich in seiner Nähe aufgehalten hatte. Schultze winkte einen am Schluss des Zuges rollenden Sanitätswagen herbei, verschwand gemeinsam mit Hitler in dem Auto, das wendete und rasch beschleunigte.
Die rasende Fahrt des Sanitätsautos erregt den Verdacht der Polizeikräfte. Auf dem Weg über den Marienplatz zum Isartor wird es mehrmals beschossen. Oder sind es Hitlers eigene Leute, die aus Wut über den gescheiterten Putsch wild um sich schießen? Die Ludwigsbrücke ist gesperrt. Der Wagen ändert seine Route und fährt über den Sendlinger-Tor-Platz Richtung Thalkirchener Straße. Doch die Ausfallstraßen sind mit Polizeiposten besetzt, und am Südfriedhof wird erneut das Feuer auf die Flüchtenden eröffnet. Wieder müssen sie die Richtung ändern und erreichen über Umwege die Straße nach Garmisch.
Ziel des Autos ist Österreich, wohin die meisten Putschisten fliehen. Göring etwa ist nach Innsbruck unterwegs und wird zwei Tage später an der Grenze abgefangen werden. Andere setzen sich nach Kufstein oder Salzburg ab, um sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen. Dennoch werden in den Stunden nach dem Putsch 216 Personen verhaftet.
Auch Adolf Hitler und der Arzt Dr. Walter Schultze steuern mit dem Fahrer des Sanitätsautos die Tiroler Grenze bei Mittenwald an. Doch die Fahrt zieht sich hin, die Männer weichen auf Nebenstrecken aus, weil sie in Starnberg und Weilheim Polizeikontrollen fürchten müssen. Dann bleibt zwischen Weilheim und Murnau das Auto mit einem Motordefekt liegen.
Denkbar, dass der Motor Schaden genommen hat, als der Wagen auf der Fahrt durch München beschossen wurde.
Vergeblich versucht der Fahrer des Wagens, der eigentlich Sanitäter ist, den Schaden zu reparieren. Schließlich lassen die drei Männer das Fluchtauto stehen und verstecken sich in einem Wald, wo sie den Einbruch der Dunkelheit abwarten. Als es soweit ist, schlagen sie sich über Feldwege nach Uffing am Staffelsee durch. In dem Neunhundert-Seelen-Dorf besitzt Ernst Hanfstaengl, Förderer und Weggefährte Hitlers, ein Landhaus.
Hanfstaengl entstammt der Dynastie des Münchner Franz-Hanfstaengl-Verlages: eine der führenden Adressen für Kunstbücher und -drucke mit Niederlassungen in London und New York.
Ernst Hanfstaengl hat Hitler erst 1922 kennen gelernt, als er ihn mit einer Rede im Bürgerbräukeller erlebte. Seither unterstützt er den rechten Agitator und Parteiführer: als Türöffner zu potenziellen Förderern, als Pressereferent der NSDAP für ausländische Journalisten, was dem Harvard-Absolventen leichtfällt, oder als Hitlers Hauspianist, der ihm ganze Wagner-Opern oder Eigenkomponiertes vorspielt. In den Jahren nach der Machtergreifung Hitlers wird Hanfstaengl zunehmend zur Zielscheibe politischer Intrigen, sodass er 1937 nach Großbritannien flieht und später in die USA übersiedelt.
lm August 1923 hatte Hitler Ernst Hanfstaengl in dessen neu erworbenen Landhaus am nördlichen Ortseingang von Uffing erstmals besucht. Seither kannte er das Anwesen und war mehrmals dort gewesen.
Weil auch Ernst Hanfstaengl zum Umfeld der Putschisten gehört, setzte er sich am
9. November nach Österreich ab. Zuvor hatte er seine schwangere Frau und den gemeinsamen dreijährigen Sohn von München aus nach Uffing geschickt, wo er sie in Sicherheit wusste vor möglichen Auswirkungen einer bewaffneten Konfrontation zwischen Hitlertruppen und der Polizei.
Helene Hanfstaengl berichtet:
„Kurz nach 7 Uhr, ich war gerade mit meinem Sohn Egon beim Abendessen, kam das Dienstmädchen und sagte, jemand hätte leise an die Haustür geklopft. lch ging hinunter. Zu meinem großen Erstaunen erkannte ich die schwache, unverwechselbare Stimme Hitlers. Schnell öffnete ich die Tür. Da stand er, leichenblass, ohne Hut, sein Gesicht und seine Kleidung mit Schmutz bedeckt, sein linker Arm hing in einem eigenartigen Winkel von seiner Schulter. Zwei Männer, ein junger Arzt und ein Sanitäter, stützten ihn. lch bemerkte, dass er Fieber hatte, und schlug vor, dass er sofort schlafen gehen sollte.“
Hanfstaengls Domizil ist nicht etwa eine Villa, wie später wiederholt kolportiert wurde, sondern ein schlichtes, bayerisches Landhaus aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erbaut in dem für die Gegend typischen Tuffstein, der in der Umgebung gebrochen wurde.
lm zweiten Stock des Hauses befindet sich unter dem Dach das Schlaf- und Studierzimmer Ernst Hanfstaengls. Dorthin führt Helene Hanfstaengl Hitler und seine beiden Begleiter, die ihm beim Entkleiden helfen und ins Bett bringen. Zuvor versuchen sie, seinen Arm wieder einzurenken, jedoch ohne Erfolg. Durch die geschlossene Tür hört sie, wie er vor Schmerzen stöhnt.
Nach einer unruhigen Nacht bespricht sich Hitler am nächsten Morgen mit seinen beiden Begleitern und ruft später auch Helene Hanfstaengl dazu.
Dabei erfährt sie erstmals von den blutigen Ereignissen des Vortags in München.
Sie weiß nichts über den Verbleib ihres Mannes, der zwar am Vorabend des Putsches im Bürgerbräukeller, nicht aber beim Marsch auf die Feldherrnhalle dabei war. Hitlers Bericht lässt sie - richtig - vermuten, dass auch Ernst Hanfstaengl auf der Flucht ist.
Weil es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Polizei ihre Fahndung nach Uffing ausdehne, bedrängt Helene Hanfstaengl die Männer, ihr Haus schnellstmöglich wieder zu verlassen, zumal es von Nachbarn umgeben ist und ihr Aufenthalt den Dorfbewohnern nicht entgehen kann.
Doch Hitler bleibt in seinem Versteck. Er hat beschlossen, den Sanitäter nach München zu schicken, der dort bei Familie Bechstein ein neues Fluchtauto organisieren soll.
Edwin und Helene Bechstein sind Förderer und Anhänger Hitlers. Die Besitzer der renommierten Klavierfabrik gehören zu den reichsten Mitgliedern von Münchens besserer Gesellschaft. Besonders Helene Bechstein hegt eine schwärmerische Zuneigung für Hitler, den sie wie einen Sohn verwöhnt. Mit großzügigen Spenden unterstützen die Bechsteins die NSDAP und deren Parteiorgan „Völkischer Beobachter“.
So liegt es nahe, dass sich Hitler in seiner Notlage die Hilfe der Bechsteins erhofft, auf die bisher stets Verlass war.
Obwohl der Uffinger Bahnhof noch nicht mal einen Kilometer entfernt von Hitlers Versteck liegt, steuert ihn der Bote an diesem Samstagvormittag des 10. November nicht an. Denn beim Milchholen im Dorf hatte das Dienstmädchen der Hanfstaengls erfahren, dass auf allen Straßen und Bahnstationen nach flüchtigen Putschisten gesucht wird.
So packt Helene Hanfstaengl zur Tarnung einen Rucksack mit Eiern und Butter und hängt ihn dem Fahrer um, der damit, um keinen Verdacht zu erregen, zum Bahnhof des Nachbarortes Huglfing läuft - immerhin ein Fußmarsch von fast 10 Kilometern.
„Den Rest dieses Tages ...“, schreibt Helene Hanfstaengl, „ ... der nicht zu enden schien, verbrachten wir in Erwartung unangenehmer Dinge.“
Gegen Abend versucht der Arzt Dr. Schultze erneut, Hitlers Arm, der stark geschwollen ist, einzurenken. Hitler wartet auf die Rückkehr des Fahrers, um seine Flucht bei Dunkelheit fortsetzen zu können. Doch das Auto bleibt aus. Die Stunden verstreichen.
„Zu Mittag des nächsten Tages bandagierte der Arzt Hitler Arm und Schultern, so dass ihm sein Rock nicht mehr passte. Wir gaben ihm den blauen Bademantel meines Mannes. Der Patient lächelte und meinte, er fühle sich wie ein römischer Herrscher.
Um diese Zeit wurde Hitler unruhig, weil das Auto der Bechsteins immer noch ausblieb. Wir wussten, dass sein Versteck nicht länger unentdeckt bleiben würde. Die Gefahr wuchs von Sekunde zu Sekunde. lch wollte unseren Klempner, einen NSDAP-Sympathisanten, verständigen, der ein starkes Motorrad mit Beiwagen besaß, in dem wir Hitler hätten wegbringen können. Hitler lehnte dies jedoch ebenso ab, wie alle anderen Vorschläge, ihn in Sicherheit zu bringen.“
Helene Hanfstaengls Sorge ist berechtigt.
Am Nachmittag des 11. November erhält der Leiter der Bayerischen Landespolizei Weilheim, Oberleutnant Belleville, den Anruf eines Vorgesetzten aus München. Belleville wird befohlen, sich mit allen verfügbaren Männern seiner Dienststelle, verstärkt durch Beamte der Gendarmerie, abfahrtsbereit zu machen. Ein Grund wird ihm nicht genannt.
Belleville tut sich schwer, kurzfristig einen Lastwagen mit Fahrer aufzutreiben; es ist Sonntag. Schließlich gewinnt er den Chauffeur des Weilheimer Gasthauses „Bräuwast“ für den Auftrag.
Auf der Ladefläche des Lastwagens nehmen zehn Beamte der Landespolizei und ein Gendarm Platz. Gegen 16:30 Uhr kommt der Befehl, nach Uffing zu fahren, um dort eine Hausdurchsuchung vorzunehmen. Leutnant Belleville und die Männer fahren los, erreichen Uffing - und steuern einen Bauernhof außerhalb der Ortschaft an.
Das Gehöft Antlashalden liegt etwa 2 Kilometer nordwestlich von Uffing. Der Einödhof gehört der 64-jährigen Mutter von Ernst Hanfstaengl. Aufgrund seiner einsamen Lage am Rand eines Waldes und seiner Weitläufigkeit besitzt das Anwesen ideale Voraussetzungen, um sich zu verstecken.
Eineinhalb Stunden lang durchsuchen die Männer der Landespolizei und Gendarmerie unter Leutnant Belleville das Haus der Hofrätin Katharina Wilhelmina Hanfstaengl, drehen alle Betten um und stochern mit aufgepflanzten Bajonetten in die Heuhaufen der Stadel und Stallungen.
Ein Polizeibericht über die Abendstunden des 11. November protokolliert:
„Während der Durchsuchung aber ertönte plötzlich das Telefon und Oblt. Belleville kam noch gerade recht, um dem Dienstmädchen nach den Worten ‚Bei uns ist die Polizei‘ das Hörrohr aus der Hand zu nehmen und zu erfahren, dass aus dem anderen Hause der Familie Hanfstaengl angerufen worden war.“
Glaubt man den Aufzeichnungen Helene Hanfstaengls, so meldete sich bereits gegen 17:00 Uhr, kurz nach Eintreffen der Polizei in Antlashalden, ihre Schwiegermutter, um sie über die Razzia zu informieren und vor einem bevorstehenden Besuch der Polizei auch in Uffing zu warnen.
Hitler, der das Gespräch mithört, gerät in Panik und möchte sich erschießen.
„‚Jetzt ist alles verloren!‘ rief Hitler. Mit einer schnellen Bewegung ergriff er seinen Revolver, den er auf einem Schrank abgelegt hatte. lch reagierte schnell, ergriff seinen Arm und nahm die Waffe an mich. ‚Wie können Sie beim ersten Rückschlag aufgeben? Denken Sie an lhre Anhänger!‘ Während er auf einen Sessel sank, versteckte ich den Revolver in einem Behälter für Mehl“, so Helene Hanfstaengl.
So theatralisch diese Szene wirken mag, so viel Glaubwürdigkeit erhält sie durch das von Ritter von Kahr bezeugte Verhalten Hitlers drei Tage zuvor im Bürgerbräukeller, als er ebenfalls mit Selbstmord drohte, sollte der Putsch scheitern.
Dass in Hitlers Uffinger Versteck Hektik ausgebrochen ist, bestätigt ein Bericht über den Einsatz zweier Zivil-Polizisten, die beauftragt sind, das dortige Hanf-
staengl-Haus zu beschatten:
„Inzwischen bemerkten die beiden Posten am Hause des Sohnes im ganzen Hause eine große Unruhe, ständiges Hin- und Hergehen, Licht-Auf- und Abdrehen etc.“
Die beobachteten Aktivitäten rührten möglicherweise auch von einem anderen Vorgang her, über den Helene Hanf-
staengl berichtet: „Dann holte ich Papier und Füllfeder und bat ihn, solange noch Zeit wäre, lnstruktionen für seine engsten Mitarbeiter zu verfassen - ein Blatt für jeden sollte genügen. lch verbürgte mich dafür, die Nachricht seinem Rechtsanwalt zu überbringen.“
Hitler folgte und erstellte erstmals eine Art politisches Testament - ein Akt, der sich im April 1945 kurz vor seinem Selbstmord, den diesmal niemand verhinderte, wiederholen wird.
In seinem ersten, in Uffing verfassten politischen Testament bestimmte Hitler Gefolgsleute wie Max Amann, Alfred Rosenberg und Hermann Esser dazu, seine Arbeit fortzusetzen - Namen, die im Frühjahr 1945 in Hitlers eigentlichem politischen Testament längst keine Rolle mehr spielen.
Und an Helene Bechstein richtet Hitler die Bitte, die Partei weiterhin „generös“ zu unterstützen.
Doch die akute Unterstützung der Bechsteins in Form eines Fluchtautos lässt noch immer auf sich warten ...
Kurz vor 19:00 Uhr kommt Unruhe vor dem Haus auf.
Helene Hanfstaengl: „Wir hörten den Lärm starker Autos, Kommandos und das Bellen von Polizeihunden. lch schaute durch die Jalousien und sah einen Soldaten mit gezogenem Bajonett und einem Polizeihund an der Leine. lch ging von Fenster zu Fenster. Jedes war bewacht, ein Polizeikordon umstellte den Garten, drei riesige Lastfahrzeuge warteten mit laufenden Motoren. Schließlich klopfte es. lch sah einen jungen, sehr unsicher wirkenden Soldaten in Begleitung von zwei Landpolizisten.“
„Oberleutnant Belleville trat eine Dame entgegen, Frau Hanfstaengl, und fragte ihn, ob er der Anführer sei. Als er dies bejahte, sagte sie: ‚Darf ich Sie bitten, erst einen Augenblick allein zu mir hereinzukommen?‘ Belleville konnte wohl annehmen, in eine böse Falle zu geraten, kam aber der Aufforderung nach. Das Kommando wartete vor dem Hause. Frau Hanfstaengl führte Oberleutnant Belleville wortlos vor eine Zimmertüre, blieb dann einen Augenblick stehen, sah Belleville mit einem langen Blicke an, machte dann auf und sagte: ‚Bitte!‘ lm Zimmer stand in weißem Schlafanzug Hitler, den Arm in einer Binde“, so der Polizeibericht.
Rudolf Belleville sieht Hitler nicht zum ersten Mal. Die beiden kennen sich aus dem Krieg und haben während des Kapp-Putsches zusammengearbeitet.
Jetzt starrt ihn Hitler geistesabwesend an. Als Belleville ihm sagt, er sei verhaftet, reicht Hitler ihm die Hand und erwidert, er stehe zu seiner Verfügung, bitte nur, vor Anpöbelungen geschützt zu werden.
Dann helfen Belleville und Helene Hanfstaengl Hitler beim Ankleiden und führen ihn zu einem der wartenden Lastwagen, den die Männer besteigen, ehe er Richtung Weilheim davonfährt. lnzwischen haben sich Dutzende von neugierigen Dorfbewohnern auf der Straße versammelt, die das Geschehen stumm verfolgen und von Beamten der Landespolizei zurückgedrängt werden.
Kurz nach Abrücken des Weilheimer Polizeikommandos bemerkte der Uffinger Dorf-Gendarm Georg Schmidell, dass vor dem Haus, in dem sich eben noch Hitler versteckte, zwei Autos anhielten und dann wieder weiterfuhren. „Allem Anschein nach handelte es sich um eine Befreiungsaktion“, vermerkt der Bericht. Sollte eines davon das Fluchtauto der Bechsteins gewesen sein?
Georg Schmidell, der nach dem Ersten Weltkrieg erster und einziger Dorf-Gen-darm von Uffing wurde, hat sich in den 1950er Jahren gerühmt, dass er es gewesen sei, der Hitler am Abend des 11. November 1923 verhaftete. Doch Schmidells Schilderungen sind zu blumig, Namen und Daten ungenau oder falsch, als dass seine Behauptung belastbar wäre. Zwar ist belegt, dass Schmidell als Ortskundiger bei der Suchaktion beteiligt war, doch lagen Einsatzleitung und Befehlsgewalt bei der Bayerischen Landespolizei und deren Kommandanten Rudolf Belleville. Weder dessen Bericht noch das Tagebuch der Helene Hanfstaengl erwähnen in diesem Zusammenhang den Dorf-Gendarmen.
Am Abend des 11. November 1923 treffen Hitler und seine Bewacher auf dem Bezirksamt Weilheim ein. Dort wird namens der Regierung von Oberbayern ein Schutzhaftbefehl gegen Adolf Hitler ausgestellt. Anschließend fahren ihn Oberleutnant Belleville und ein Bewacher ins 40 Kilometer entfernte Landsberg am Lech, wo er gegen 22:45 Uhr in die Festungshaftanstalt eingeliefert wird.
„Er verhielt sich ruhig und gefasst“, vermerkt Rudolf Belleville, „machte jedoch einen gedrückten Eindruck.“
Doch wie war die Polizei Hitler auf die Spur gekommen, wer hatte ihn verraten?
Lange vor dem Hitler-Putsch besuchte Ernst Hanfstaengl das Ehepaar Göring einmal in dessen Münchner Haus in Obermenzing.
„Dort war mir ein gewisser Greinz aufgefallen, ein etwas dubios ausschauender Geselle, der die Gartenarbeiten erledigte und mit widerlicher Penetranz platte Naziweisheiten herunterleierte. Für jeden Urteilsfähigen war das Unechte seines Geschwafels unüberhörbar. lch teilte Göring meine Vermutung über die tatsächliche Rolle dieses ‚Gärtners‘ mit: ‚Offen gesagt, Hermann, der Kerl gefällt mir ganz und gar nicht. Der schaut ja aus wie ein Polizeispitzel.‘ Doch davon wollten weder Göring noch seine Frau das Geringste wissen.“
Der gleiche Greinz taucht am Nachmittag des 10. November 1923 überraschend in Uffing bei Helene Hanfstaengl auf und fragt nach Hitler, den er dringend sprechen müsse. Doch Helene Hanfstaengl schickt ihn weg: Sie wisse nichts von Hitler, noch, wo er sich aufhalte. Nachdem er die gleiche Auskunft in Antlashalden bei Hanfstaengls Mutter bekommen hat, mietet Polizeispitzel Greinz sich im Uffinger Gasthof „Zur Post“ ein, um Erkundigungen einzuholen und das Haus von Ernst Hanfstaengl zu observieren. Am folgenden Tag hat der Spitzel offenbar genügend Verdachtsmomente, um Alarm auszulösen.
Die dramatischen Ereignisse im November 1923 waren nur der erste einer Reihe ähnlich existenzieller Kulminationspunkte in Hitlers Karriere. Doch im Unterschied zu den wiederholten Attentatsversuchen auf den späteren Diktator war es diesmal Hitler selbst, der in den Tagen nach dem gescheiterten Putsch nahe dran war, sein Leben zu beenden - wie er es dann zwei Jahrzehnte später, angesichts des verlorenen Krieges mit Millionen von Toten, im Bunker der Reichskanzlei tat. Nie war die Chance größer als im bayerischen Uffing, dass Hitler sich der Menschheit beizeiten erspart hätte.
© BR/Red. Hörspiel, Dokumentation, Medienkunst - Friedemann Beyer
(veröffentlicht in Hoagart 09 | Oktober 2023, siehe unten, Seite 30)
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